William

 

 

Was darf William kosten?

 

                                                                                      von Benedikt Fischer

 

„Der Kerl nervt!“, denke ich und atme tief ein. Leise, damit der "Kerl" am anderen Ende der Leitung nichts merkt. Klar, tut er mir leid, weil er endlich raus möchte aus dem Heim, "selbstbestimmt" leben will, aber nicht darf, weil das mit rund 10.000 Euro im Monat etwa doppelt so teuer wäre wie die Heimunterbringung. So teuer deshalb, weil er rund um die Uhr betreut werden müsste, also mehr als 700 Stunden pro Monat.

In Zeiten von Hartz IV ist das jedoch kaum zu vermitteln. Und überhaupt: Was heißt denn "selbstbestimmt leben", wenn er für alles Hilfe braucht? Ist es dann nicht irgendwo egal, ob ihm ein Pfleger im Heim oder ein "Assistent" zuhause seine Nase putzt, ihn füttert oder den Urinbeutel leert? Genau das versuche ich meinem Gesprächspartner schonend beizubringen, klappt aber nicht. Der unterbricht mich dauernd und weiß auch noch alles besser. Dumm dabei ist: Er hat Recht, meistens jedenfalls.

So lerne ich William Geier kennen, am Telefon.

 

Er spricht ruhig, wählt die Worte sorgsam, seine Stimme klingt gepresst. 39 Jahre alt ist er und hat 28 davon in Heimen verbracht. Herr Geier ist schwerstbehindert, Spastiker, ein sogenannter "Tetraplegiker". Eine falsche Spritze 1973 im Krankenhaus war schuld: Erwachsenendosis für einen Säugling, juristische Verantwortung später nicht zuzuordnen, daher nicht einmal Entschädigung. Wie könnte die auch aussehen bei so etwas: Krampf im Kopf, sehr hohes Fieber – "mein Hirn wurde gegrillt", wie William Geier es ausdrückt.

 

"Fragen Sie lieber, was ich kann, das geht schneller", antwortet er trocken, als ich wissen will, was er denn aufgrund seiner Behinderung alles nicht könne. Okay, beginne ich zu begreifen, denken klappt schon mal. Ansonsten jedoch nicht viel: Reden – "mein Sportprogramm", sagt er und schwitzt schon bei diesen Worten. Und ein bisschen die Hände bewegen, das kann er. Muss er auch, denn sonst könnte er seinen Rolli nicht bewegen. Eine Spezialkonstruktion: Alles läuft über einen kleinen Joystick, den er mit seiner "Kralle" bedient, sogar gekonnt Hindernisse umkurvt und einigermaßen geradeaus fährt - eine Meisterleistung an Konzentration und Willenskraft. Denn bei Spastikern wie ihm krampfen die Muskeln mehr oder weniger unkontrolliert…" was mich nicht gerade für einen Job als Feinmechaniker prädestiniert", grinst William Geier.

 

Eigentlich rufe ich nur an, um abzusagen: Dass ich leider keinen Film über ihn und seinen Kampf, machen könne, so leid es mir tue. Herr Geier hatte mir geschrieben, sein Problem geschildert. doch ich habe gleich abgewunken: 10.000 Euro im Monat sind einfach zu viel, das könnte schiefgehen, befürchte ich. Stichwort "Sozialneid".

Das stört ihn alles nicht, nur das mit dem vielen Geld belaste ihn sehr. Höflich, aber bestimmt, erklärt mir William Geier seine Welt – und zeigt mir nebenbei, dass ich eigentlich keine Ahnung habe. Er ist kein "armer Behinderter", der brav "Ja" sagt (auch wenn mir das anfangs lieber gewesen wäre). Der "Kerl" hat einen ziemlichen Dickschädel und eine Menge auf dem Kasten; außerdem noch viel Gespür für andere Menschen und deren Befindlichkeiten, wie ich später merke. Er könne mich verstehen, sagt er auch noch am Telefon, und würde mir gerne erklären, wie seine Welt funktioniert, oder besser gesagt: Was in seiner Welt leider nicht funktioniert. Das gibt mir den Rest: Eigentlich wollte ICH IHM etwas erklären - und jetzt dreht er den Spieß einfach um.

Na gut, ich komme, seufze ich. Als ich auflege, bin ich mir nicht sicher, was das für ein Telefonat war: Ein gutes, denn irgendwie imponiert mir der "Kerl", oder ein weniger gutes, denn immerhin hat er mich ziemlich souverän "abgebügelt".

 

Ein paar Wochen später fahre ich hin. Das Heim im hessischen Hochheim bei Wiesbaden ist groß, hat einen Park, eine Cafeteria und sieht eigentlich ganz in Ordnung aus - innen ein bisschen wie Krankenhaus, aber zum Glück riecht es nicht so. Hinter einer halboffenen Tür wimmert einer, etwas weiter steht ein anderer, fingert an einem Gartenschlauch herum und stöhnt; irgendwo kichert eine Frau nervös vor sich hin. Die Vorstellung, hier mein Leben zu verbringen, will mir nicht gelingen.

 

Herr Geiers Zimmer ist eines der größten, etwa 15 Quadratmeter. Langgestreckt, links und rechts Regale an den Wänden, vollgestopft mit seinem Leben, am Ende Fenster mit Bett quer davor. Fast alle Regale sind ramponiert, immer ungefähr 20 Zentimeter über dem Boden, da, wo beim E-Rolli der Radkasten ist. Im Zimmer herumfahren gleicht dem Rangieren mit dem Auto in einer engen Parklücke oder in einem vollbesetzten Parkhaus.

 

William Geier freut sich, bietet mir etwas zu trinken an. Und ob ich so freundlich wäre, seinen Riesenbecher zu füllen und auf die Ablage seines Rollstuhls zu stellen? Bin ich, klar doch! Aber warum trinkt er nicht? William Geier hebt und senkt seine Arme ein wenig und schnauft. "Mist! – ich komm nicht ran!". Wie peinlich. Ich schiebe den Becher schnell 10 Zentimeter näher zu ihm hin. Das passiere anderen auch, beruhigt er mich, und angelt mit dem Mund nach dem Strohhalm. Wie ein Fisch auf dem Trockenen – das Ding ist widerspenstig und richtig räumlich sehen kann er auch nicht, weil seine Augen in verschiedene Richtungen schauen. Wir müssen beide lachen. Ich dagegen schnappe mir einfach eine Flasche, gieße ein und trinke. Eine Sache von Sekunden.

 

Denken kann William Geier, Fernsehgucken (mit einem Auge), die Wände anstarren und den Joystick von seinem Rolli bewegen - wenn der nicht mal wieder für ein paar Wochen ausfällt. Dann sitzt er in einem ganz normalen Rollstuhl. Das tut weh, denn er kann seine Sitzposition nicht verändern, nicht einmal ein bisschen.

Seine Arme und Beine kann er fast gar nicht gebrauchen – ich dagegen fühle mich schon komplett "behindert", wenn ich mal einen Gipsarm habe.

"Ich brauche jemanden, der mir Arme und Beine ersetzt", erklärt William. Wir duzen uns, haben gleich einen Draht zueinander. Hier auf der Station, erfahre ich, sind tagsüber für 22 Schwerstbehinderte 2 bis 3 Pflegekräfte da. Schlecht, wenn man grad Durst hat, oder Hunger, wenn es irgendwo juckt oder die Nase läuft. Immer fragen, immer warten, bis jemand Zeit hat. 10 Minuten, halbe Stunde, eine Stunde, Tag für Tag, seit 28 Jahren.

Das liegt nicht am Heim – es ist kein schlechtes – denn die Situation ist überall die gleiche.

Will man als behinderter Mensch da raus, darf es nicht viel mehr kosten als die Heimunterbringung. Sagt der Landeswohlfahrtsverband Hessen und auch einige Gerichte. Zwar gilt in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention, nach der keiner im Heim leben muss, wenn er nicht will, aber mit dem (eigentlich "niederrangigen") deutschen Sozialgesetz wird das in der Praxis wieder ausgehebelt, wenn die Mehrkosten "unverhältnismäßig" sind.

Doch: Was ist "unverhältnismäßig", wenn die Schwere der Behinderung die benötigten Hilfen so teuer macht, wie bei William Geier?

Was darf er denn kosten? An diese heikle Frage trauen sich weder Gericht noch Sozialbehörde heran. Stattdessen heißt es: Im Heim sei er besser aufgehoben, die Unannehmlichkeiten dort wären doch "zumutbar". Die zuständige Referatsleiterin vom Landeswohlfahrtsverband – der Williams Auszug erst befürwortet, dann jedoch abgelehnt hat – erklärt, dass sie ja schließlich auch nicht ständig jemanden um sich habe, der ihr den Alltag angenehm mache. "Es gibt halt Grenzen in jedem Leben", fügt sie lapidar hinzu.

 

Für William bedeutet das seit 7 Jahren Kampf – dabei ist der um seinen Auszug noch nicht einmal sein einziger: Die BARMER Ersatzkasse etwa weigert sich seit Jahren, die Reparaturkosten für seinen Ersatz-Rollstuhl zu zahlen. Den braucht William, um die langen Ausfallzeiten seines eigentlichen Rollis zu überbrücken. Er könne ja "im Bett liegen", empfiehlt ihm das Gericht, als er die zweite Instanz verliert (nachdem er die erste gewonnen hatte, die BEK jedoch in Berufung ging). William hat es dennoch geschafft und endlich vor dem Bundessozialgericht gewonnen – doch die Reparaturkosten hat er noch immer nicht, sitzt wortwörtlich auf ein paar tausend Euro Schulden, die er mühsam abstottert von seinen rund 280 Euro Monatsverdienst. Er fährt die Post aus für das Heim und übernimmt Botendienste…das kann er aber nur, wenn er "mobil" ist!

So muss William auch noch um seinen Mini-Job kämpfen. Nicht auszudenken, welche beruflichen Möglichkeiten der brillante Denker hätte, wäre er nicht so stark behindert! Vom Privatleben ganz zu schweigen - Freundin, Familie, Kinder hätte er natürlich sehr gerne…

Sein Kampf in eigener Sache füllt mehrere Aktenordner. Und dank seiner geduldigen Rechtsschutzversicherung bahnt sich schon die nächste Klage an: Gegen die Kreisverwaltung, die ihm keine Gutscheine mehr für den Behindertenfahrdienst zu Freunden oder mal ins Kino geben will. Solche Fahrten solle das Heim mit ihm machen, heißt es. Doch wer soll ihn denn fahren, wenn dort schon so wenige Pflegekräfte sind? Ironie: Wäre er nicht im Heim, bekäme er die Gutscheine…!

Zum Beispiel, um seinen besten Freund Matthias zu besuchen.

Der wohnt ein paar Kilometer weiter in Mainz – damit in Rheinland-Pfalz, das ist sein Glück. In einer eigenen Wohnung, mit 24-Stunden-Assistenz. Matthias hat Muskelschwund, kann auch fast nichts mehr allein. Was für ihn der entscheidende Unterschied sei zum Leben im Heim, frage ich ihn. Matthias überlegt nicht lange: "Dass ich auf die Toilette gehen kann, wann ich will – und nicht warten muss, bis jemand Zeit für mich hat".

William nickt und fügt feierlich hinzu: "Das ist Freiheit!"

                                                           

                                   (erschienen in  "Leben und Tod", 02/2013  ) 

 

                                                 © Benedikt Fischer 2013

 

 

 

 

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