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Meine Mutter

(1936-2021)

 
 
"Ssssnaps" war ihr letztes Wort. Fast.
 
Wenige Tage vor ihrem Tod, als sie schon beinahe eine Woche lang im Bett liegen musste - was ihr und ihrem Rücken gar nicht passte - war noch mal "Party" angesagt.
 
Wie oft hatten wir beide in den vergangenen 11 Jahren am Tisch gesessen in ihrem Zimmer in dem kleinen Pflegeheim in Bonn und gemütlich ein Glas Wein getrunken - manchmal auch zwei - und geplaudert.
Jetzt also "Sssnaps". Gemeint war ihr geliebter Kirschlikör.
Als sie nach einigen "Ladungen" aussah wie das Werbegesicht von "Rotbäckchen" annodazumal, fragte ich sie, ob sie denn besoffen sei. "Ja", kam es ein wenig kleinlaut, aber entschieden von ihr zurück.
Kurz zuvor hatte sie Schweizer Kinderlieder mitgesungen, die sie aus ihrer Au-Pair-Zeit kannte und die ich ihr mal von der alten Schallplatte auf CD überspielt hatte. Das klang schrecklich - und war doch einfach wunderbar.
 
Es war schön, mit ihr zu lachen, auch über sie selbst und ihre Behinderung. Das konnte sie gut, und das war so wichtig, besonders in schweren Zeiten.
Komischerweise klappte das fast besser, als sie halbseitig gelähmt im Rollstuhl saß und oft Schmerzen hatte, sich im einhändigen Alltag abplagte.
 
Vor diesem heftigen Einschnitt in ihr Leben schien sie alles im Griff zu haben, wusste schnell Bescheid über alles - manchmal sogar schon, bevor sie darüber nachgedacht hatte. Doch mitunter kam sie später von sich aus, sagte "Du, ich hab da noch mal nachgedacht" und entschuldigte sich für ihren "Schnellschuss".
Mein Bruder kam damit gar nicht klar, wollte sich seine Schulfreunde nicht aussuchen oder gar aburteilen lassen von meiner Mutter mit ihrer schnellen, frechen "Schnauze". Dass sie Berlinerin war, hörte man da noch raus.
Ich hatte es da besser, war in manchen Wesenszügen meiner Mutter näher als meinem Vater, den ich oft einfach nicht verstehen konnte. Und wenn sie etwas sagte, was mir nicht passte, in einer Art, die grad keinen Widerspruch duldete, hab ich als Kind oder Jugendlicher brav "Jaja" gesagt, aber dann doch gemacht, was ich wollte, wenn sie nicht mehr hinschaute und sich bereits mit der nächsten Sache beschäftigte.
 
Überhaupt war sie immer in Eile. Musste sie auch, mit zwei kleinen Kindern Mitte der 60er Jahre. Aber auch später.
In den Jahren kurz vor ihrer Hirnblutung wurde sie immer eiliger, atemloser. "Ich muss noch den und den anrufen", sagte sie zum Beispiel. "Warum?", fragte ich, die melden sich doch auch nicht!". "Ja, aber die erwarten, dass ich anrufe!", entgegnete sie.
Es schien immer mehr Dinge zu geben, die sie unbedingt noch machen MUSSTE - die meisten hatten nichts mit ihr zu tun, trotz Brotbacken, Homöopathie-Studieren und Essen-auf-Rädern ausfahren.
 
Ich hatte das Gefühl, je mehr mein Vater sich zurückzog und seine beginnende Demenz zu verschleiern versuchte, desto mehr schmiss meine Mutter ihren "Turbo" an ... bis der platzte, bzw. viele kleine Adern in ihrem Kopf, und wir alle zusammen mit den Ärzten zunächst dachten, dass sie stirbt. Mit 66.
Aber: "Nein, das KANN nicht sein, das geht ja gar gar nicht - DER Hirnbereich ist doch komplett kaputt!", entgegnete die nette Ärztin von der Intensivstation entgeistert, als ich fragte, ob ich Stift und Papier haben könne, da meine Mutter per Zeichensprache und Gebrummel danach verlangt hatte, weil sie Wichtiges aufzuschreiben gedenke. Und das, nachdem sie keine 20 Stunden zuvor in akuter Lebensgefahr war, weil epileptische Anfälle sie umzubringen drohten.
 
Sie werde "Gemüse" sein, wenn sie überlebt, hieß es ärztlicherseits, werde nie mehr sprechen können, auch nicht lesen oder schreiben. Zwei Tage nach ihrer Hirnblutung konnte sie alles wieder - nicht perfekt, aber erstaunlich gut für eine Beinahe-Totgesagte.
 
Und so ging es weiter: Mit einem unbändigen Willen ging sie ihre Therapien an, überanstrengte sich dabei sicherlich. Schwierig dann die Zeit nach ein paar Monaten, als ihr klar wurde, dass trotz aller Mühen die Halbseitenlähmung bleiben wird, also auch der Rollstuhl.
 
Das waren harte Zeiten für sie, aber auch für meinen Vater, der ihr nun nicht mehr helfen konnte und ihr nur im Weg war. Sie war böse auf ihn, stellvertretend für ihre Behinderung, die sie ja schlecht anmotzen konnte.
Erst als sie allein zu Hause war, konnten sich die Dinge ordnen bei ihr und auch in ihrem Verhältnis zu meinem Vater.
 
Sie war zwar immer noch stets "in action", aber erlangte zwischendurch für sie absolut erstaunliche Erkenntnisse.
Sie rief mich eines Tages aufgeregt an: "Weißt Du, was mir heute passiert ist?" Ich befürchtete schon Schlimmes, als sie erzählte: "Du, ich bin heute Morgen ins Wohnzimmer gerollt, hab da ungefähr eine halbe Stunde gesessen - und weißt Du was? Ich hab einfach NICHTS gemacht, und das Dolle war: es war GUT!"
Das war meine Mutter.
 
Zuletzt wurde alles immer mühsamer, wir sprachen oft über das Sterben, zwischenzeitlich auch über aktive Hilfe dazu. Ich bin froh, dass ich das Versprechen, das ich ihr (unter Bedingungen) vor einigen Jahren gab, nie einlösen musste und sie es später sogar zurückzog, da sie dann doch alles bis zum Ende durchleben wollte, weil es einfach dazugehöre zu ihrem Leben.
 
Das hat sie nun gemacht.
Anfangs mit teilweise großen Schmerzen, später mit "Party", und zum Schluss gleichmäßig schnell atmend, mit geschlossenen Augen, als ob sie in sich hineinhorchen wolle - aber eben nicht ruhig und leise, sondern ein wenig hektisch und geräuschvoll, wie es ihrer Art und ihrem Temperament entsprach.
 
Sie hat dann einfach aufgehört zu atmen. Wie mein Vater vor 10 Jahren. Ich denke, ihr Sterben war letztlich einfacher als die vergangenen Jahre mit ständigen Schmerzen, der Krebs-OP und dem sich zerstörenden Körper.
Jetzt ist sie hoffentlich da, wo sie schon länger hinwollte: Im "Land der Seelen".
 
Hast Du gut hingekriegt, Mudder. Und grüß Vatter - Du warst Dir ja absolut sicher, dass Du ihn bzw. seine Seele wiedertriffst und hast Dich drauf gefreut.
 
Mach's gut!

 

 

 

 

 

Mein Vater

(1930-2011)

 

 

 

 

„Nicht traurig sein“, hat er mal gesagt. Wir sollen nicht traurig sein, wenn er tot ist. Aber wohl auch nicht vor Freude auf den Tischen tanzen, das hätte ihn vielleicht dann doch ein wenig irritiert.

Ich möchte kurz etwas über meinen Vater erzählen. Ich meine nicht den Vater von früher, sondern den Vater, der er zuletzt war, unter dem Eindruck seiner Krankheit, die schrecklich war, aber auch Platz schuf für Wundersames: Mein Vater hat das Lachen und das Weinen wieder erlernt – und es genossen!

Der Verstand war weg, doch die Gefühle wieder da: Ich habe ihn noch nie so freundlich, so locker und gelassen erlebt wie in diesen letzten Jahren.

 

Nicht mehr der Lauf der Welt war wichtig, sondern: Was es zum Mittagessen gibt – und vor allem: Ob ich Marzipankartoffeln dabei hab.

Den „alten“ Vater gab es da schon lange nicht mehr – etwa 2003 war das letzte Vater-Sohn-Gespräch, 2008 das letzte Telefonat, 2009 der letzte, bereits überaus mühsame gemeinsame Spaziergang.

 

Unser Verhältnis zueinander hatte sich während dieser Jahre beinahe umgekehrt: Jetzt war er es, der meine Hand suchte, wenn wir gemeinsam die Straße überqueren wollten – so wie ich früher als Kind seine Hand nahm und mich sicher fühlte.

„Wenn ich groß bin und ihr klein…“, begannen damals meine großen Versprechungen für die Zukunft…irgendwie schien sonnenklar, daß sich alles umkehrt später. Und seltsamerweise kam es dann auch so.

 

Ich werde ihn vermissen – klar, seine Allwissenheit von früher, seinen Sinn für Gerechtigkeit und seinen schwarzen Humor – aber auch: unser Begrüßungsritual, als er nicht einmal mehr „Hallo“ sagen konnte.

„Ooooooooooh!“, so empfing er mich - „Aaaaaaaaaah!“ habe ich geantwortet, dann hat er gegrinst und alles war gut.

 

 

Neulich hat er mich Horst genannt und sich schiefgelacht dabei. Ausgerechnet Horst!

 

„Na, wer bin ich denn heute?“, hab ich manchmal gefragt: „Thomas, Friedolin, Adalbert?“ – Oder: „Wie alt bist Du?“ - 12, war, glaube ich, seine letzte Antwort auf diese Frage.  Und ich? - „8“, kam es ohne Zögern. Wie das denn hinkäme, weil ich doch sein Sohn sei, habe ich gefragt. „Na und?“ kam es zurück, nach dem Motto:  Wer wird denn schon so kleinlich sein.

 

Manchmal benutzte er wie selbstverständlich Phantasieworte. “Eisenmelch“ zum Beispiel, oder „Barmerstehl“ – Barmer-Versicherung, Erbarmen, stehlen, stellen…

„Nein, nein, nein“ kam es von ihm, mit zunehmender Heiterkeit ob meines Scheiterns an seinen, doch so simplen Begriffen.

 

Und für die blödesten Kalauer war er zu haben – auch für die über sich und seinen Zustand. Ein kleines Gedicht von Frantz Wittkamp mochte er besonders gern:

 

„Hängt am Tropf, kann nicht mehr gehn

schwaches Herz, kein Lebensmut…

– aber davon abgesehn, 

geht es ihm erstaunlich gut…“

 

Früher habe ich meinen Vater bewundert, manchmal auch ein wenig gefürchtet. Jetzt ist er mein Freund. Darüber bin ich sehr froh!

 

Und ich kann – nach Rücksprache mit dem Arzt – sagen:

Vielleicht ist Sterben ja das Schwierigste im Leben  

– aber MEIN Vater, der konnte das im Schlaf!

 

 

Ich hoffe, daß es ihm gut geht

- wo und wie immer er jetzt auch sein mag.

 

 

 

Seine Beisetzung war am Samstag, 7.Mai 2011, um 13 Uhr

im  Friedwald Michelstadt  im Odenwald

unter einer Weißtanne auf einer kleinen Lichtung

mit Blaubeersträuchern und viel Grün drumherum,

bei strahlendem Sonnenschein und sommerlicher Wärme.

Eigentlich ein idealer Rastplatz beim Wandern.

Das hätte ihm gefallen.

 

 

 

 

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