Meine Eltern - My Parents
Ein Film von Benedikt Fischer
Glück !
Fahrstuhl zum Glück!
von Benedikt Fischer
Das Nachdenken dauert nur einen Moment. "Wenn mal alle Aufzüge funktionieren!", platzt es aus ihr heraus.
Was hatte ich nochmal gefragt? Was denn für sie "Glück" bedeute!
Désirée sieht das dicke Fragezeichen in meinem Gesicht und erklärt: "Na, ist doch klar: Ständig sind die Aufzüge kaputt, wenn ich mal in die Stadt will und von der U-Bahn hoch muss…das nervt! Grad gestern wieder…" hat sie gleich ein paar Beispiele parat von halsbrecherischen Aktionen mit hilfsbereiten, aber letztlich dann doch hilflosen Menschen, die sie in ihrem Rollstuhl mittels Rolltreppe ans Tageslicht bugsiert haben. Ist auch die Rolltreppe mal wieder kaputt, heißt es: Umkehren – einkaufen fällt heute aus. Bei den Verkehrsbetrieben beschwert sie sich ständig: Achtmal haben die ihren Namen und die Adresse notiert – dennoch hat es Tage, manchmal Wochen gedauert, bis die Aufzüge wieder liefen. Ein Ärgernis für alte Menschen, Eltern mit Kinderwagen und eben: Rollifahrer wie Désirée.
Sie sitzt ja nicht zum Spaß "eine Etage tiefer"! Laufen konnte sie noch nie. Schuld waren Komplikationen bei ihrer Geburt: Sauerstoffmangel, Hirnkrampf. Die Ärzte hatten sie schon aufgegeben. Sie ist Spastikerin, nicht querschnittsgelähmt, fühlt also alles am ganzen Körper. Bestimmte Muskeln krampfen manchmal unkontrolliert, vor allem in den Beinen und im linken Arm. Deswegen kann sie auch nicht so fix mit ihrem Rolli fahren – dafür ist sie zäh: Bei Wind und Wetter ohne Handschuhe, selbst wenn der Handlauf vom Rollirad eiskalt ist. Spezialausstattung ist eben teuer.
"Glück wäre auch", kommt Désirée jetzt langsam in Fahrt, "wenn ich endlich einen Job bekommen würde!" Hunderte von Bewerbungen hat sie geschrieben, nur selten kam überhaupt eine Antwort, noch nie eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch. Am Telefon waren einige Arbeitgeber durchaus interessiert, aber als sie hörten "Rollstuhlfahrerin", war die Stelle plötzlich schon vergeben. Offenbar zahlen die meisten Betriebe lieber Strafe und stellen Behinderte erst gar nicht ein, als ein scheinbares Wagnis einzugehen mit einem Mitarbeiter, der nicht exakt so wie sie "funktioniert".
Ist das vielleicht die gleiche Angst, die manche Menschen verlegen wegschauen oder gar die Straßenseite wechseln lässt, wenn ihnen ein Rollstuhlfahrer entgegen kommt?
Oder meinen immer noch viele, wer nicht laufen kann, kann auch nicht denken?
Das würde zumindest erklären, warum sehr oft der (aufrecht laufenden) Begleitung geantwortet wird, obwohl die Frage vom Rollstuhlfahrer kommt.
Ebenso im Supermarkt. Sie zahlt – ich bekomme das Wechselgeld gereicht. "Kannste halt nix machen", meint Désirée mit einer wegwerfenden Handbewegung.
Nichts machen kann sie auch gegen die mitleidigen Blicke einiger "Läufer" – so nennen uns die Rollifahrer – wenn "das arme Ding" angerollt kommt. Alltag, klar – aber manchmal wird "das arme Ding" doch ziemlich wütend.
Gründe gibt es genug: Zum Beispiel, wenn die Arbeitsagentur sie zwingt, sich bei Arbeitgebern zu bewerben, die sowieso nicht in Frage kommen (weil sie keine Behinderten wollen oder der Job nicht vom Rollstuhl aus zu machen ist). Oder wenn Désirée Berufswünsche äußert, die nicht ins Schema passen und dafür nur ein mildes Lächeln erntet. Irgendwas mit Werbung...Hauptsache: Kreativ und mit Menschen! Vielleicht irgendwo am Empfang in einem Hotel, bei einem kleinen Betrieb? Da wäre sie goldrichtig, finde ich, und kann mir ohne Mühe ausmalen, wie ansteckend ihr Lächeln und ihr freundliches Wesen auf Gäste, Kunden oder Besucher wirken würden. Ausgeschlossen, meint ihre Sachbearbeiterin, denn im Kundenkontakt sei Désirée als Rollifahrerin „imageschädigend“ für das Unternehmen.
Ausgebildete Sekretärin ist sie – pardon: Kauffrau für Bürokommunikation heißt das, was sie eigentlich nie wollte. Doch für die Arbeitsagentur ist klar: Wer im Rollstuhl sitzt, wird Buchhalter oder Sekretärin. Und dann arbeitslos. „Seien Sie doch froh, wenn Sie nicht arbeiten müssen“, bekam Désirée sogar von einem Sachbearbeiter zu hören, „an Ihrer Stelle würde ich mich freuen, dass ich morgens einfach zuhause bleiben kann“. Sie würde eh nur einem „Gesunden“ den Arbeitsplatz wegnehmen, bemerkt ein anderer „Arbeitsberater“ tadelnd.
Désirée zuckt mit den Schultern. "Normal!", sagt sie. Doch ich glaube, meine pazifistische Grundhaltung wäre ernsthaft ins Wanken geraten, hätte ich das miterleben müssen.
Für ein einziges Formular fährt sie schon mal einen halben Vormittag mit Bus und Bahn durch die Gegend, wartet dann trotz Termin eine Stunde und hat nach 5 Minuten "Beratung" die gleiche Tortur wieder vor sich, zurück nach Hause. Mit der Post schicken? Nein, das ginge nicht, heißt es. Denn ob behindert oder nicht: Hartz IV-Empfänger haben ja Zeit!
Das Wohnungsamt der Stadt Frankfurt am Main streicht Désirée mehrere hundert Euro Wohngeld, wegen angeblich "fehlender Mitwirkung" beim Einreichen von Anträgen. Erst heißt es, man habe gar nichts erhalten, dann plötzlich doch, aber die eingereichten Unterlagen seien nicht vollständig gewesen (obwohl unter Zeugen vollständig losgeschickt). Die amtliche Begründung ist glatt gelogen, dennoch: Alles rechtens, befindet die Dame von der internen Widerspruchsstelle – man könne ja vor Gericht ziehen. Für das Problem, wovon Désirée bis dahin Miete zahlen soll, fühlt sich das Amt nicht zuständig. Pech gehabt.
Behinderte sollen offenbar froh sein, dass die Gesellschaft überhaupt für sie "sorgt". Es dürfe schließlich keine „Sonderbehandlung“ geben: Alle Menschen sind ja gleich. Ist also mit der gesetzlich verankerten Gleichbehandlung etwa nur gemeint, dass Behinderte ein Recht darauf haben, genauso schlecht behandelt zu werden wie andere Menschen, die zu wenig oder gar nichts haben, selbst wenn sie schuldlos sind an ihrer Situation?
Aber es geht noch weiter: Wenn Désirée auf den Bus wartet, fährt der manchmal einfach an ihr vorbei. Oder er hält an und lässt alle anderen Wartenden rein – außer Désirée. Angeblich aus "Sicherheitsgründen" oder wenn der Fahrer meint, es wäre zu viel an Zeit und Mühe, kurz auszusteigen und die kleine Rampe an der hinteren Tür auszuklappen, damit Désirée mit ihrem Rolli in den Bus kann. "Nehmen Sie halt den nächsten", heißt es nicht selten ungerührt.
"Glück ist dann", meint Désirée und lacht, "wenn der Busfahrer nett ist, oder mir einfach jemand rein hilft, bevor der Fahrer meckern kann!"
Offenbar kennt nicht jeder das Grundgesetz, nach dem "niemand (…) wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" darf (Art.3, Abs.3). Und wohl kaum einer die Gleichstellungsgesetze oder gar die UN-Behindertenrechtskonvention, die Diskriminierung, Benachteiligung verbietet und Chancengleichheit, das Recht auf Arbeit, Unabhängigkeit usw. auch hierzulande festschreibt. Aber Papier ist ja geduldig.
Jetzt reg ICH mich auf. Désirée schweigt. "Was wolltest Du nochmal wissen?", fragt sie vorsichtig. Naja, wie das eben sei mit dem Glück. Sie grinst, haucht genießerisch "Broccoli-Auflauf!" und ergänzt mit verklärter Miene: "Frikadellenbrötchen!"
Sehr komisch. Obwohl ich die Antwort schon ahne, frage ich trotzdem: "Im Ernst: Wie wäre es mit Laufen? Wenn Du Dich nicht mehr mit dem Rolli durch die Stadt quälen müsstest, sondern einfach Deine Füße benutzen könntest wie ich auch?"
"Ich quäle mich nicht", korrigiert sie, etwas beleidigt, "für mich ist DAS normal! Laufen kann ich mir überhaupt nicht vorstellen – da fall ich doch gleich um!".
Okay. Jetzt will ich es ganz genau wissen: "Wenn Du nicht laufen willst und lieber im Rollstuhl sitzt, warum fluchst Du dann ständig über die vielen kleinen Hindernisse und Probleme jeden Tag?".
Désirée stutzt und gerät ins Grübeln. Immerhin kann sie sich nicht allein die Schuhe anziehen, kommt nicht an hohe Fahrstuhlknöpfe ran, muss im Laden jemanden um Hilfe bitten, wenn sie etwas oben aus den Regalen braucht, steht immer wieder vor Stufen, Treppen, hohen Bordsteinen oder Schotterwegen und kommt einfach nicht weiter. Für einen Kinobesuch entscheidend ist nicht der Film, sondern Kino und Kinosaal…schon schwindet das Angebot rapide, selbst in der Großstadt. Ganz zuhause bleiben muss sie, wenn richtig Schnee liegt. Und Nachbarn anbetteln, dass die ihr etwas mitbringen vom Einkaufen.
Mit Freunden ausgehen, heißt selbst im Hochsommer oft: Nichts trinken – denn Toiletten für Behinderte sind rar. Urlaub machen ist auch schwierig, weil Haltegriffe im Bad oder eine ebenerdige Dusche nicht üblich sind und daher teuer.
Und wenn ich ab und an vergesse, den Senf im Kühlschrank nach unten zu räumen – und nicht nach oben, wo ich ihn aus alter Gewohnheit hinlege – kommt Désirée einfach nicht dran. Eine Lappalie, gewiss – aber nervig, wie so vieles.
Désirée ist ganz still, weiß nichts zu erwidern und schaut mich trotzig an.
"Ich will einfach nur eine Chance haben", sagt sie leise, "und zwar so, wie ich nun mal bin, also mit Rolli!"
Jetzt komme ich mir fast ein bisschen blöd vor, mit meinen zwei Beinen und meiner – so besehen – ziemlich unkomplizierten Welt.
Désirée tröstet mich und meint: "Lass uns von was anderem reden…Glück ist doch eigentlich was Schönes!". Sie schaut mir in die Augen und gibt mir einen dicken Kuss. "Weißt Du", sagt sie langsam und beginnt zu strahlen, "funktionierende Aufzüge sind Glück, nette Busfahrer oder Sachbearbeiter auch. Aber das größte Glück für mich bist DU!".
"Du für mich auch", antworte ich wie im Kitschroman, umarme Désirée und finde, dass sich mein Glück einfach wunderbar anfühlt!
(erschienen in "Leben und Tod", 02/2014)
© Benedikt Fischer 2013
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