Eisenmelch...

 

 

 

"Eisenmelch und Barmerstehl"

 

Brief an meinen Vater

von Benedikt Fischer

 

„Nicht traurig sein“, hast Du mal gesagt. Wir sollen nicht traurig sein, wenn Du tot bist. Aber wohl auch nicht vor Freude auf den Tischen tanzen, das hätte Dich dann vielleicht doch ein wenig irritiert.

Oder auch nicht, denn in den letzten Jahren hast Du Dich sehr verändert.

Multi-Infarkt-Demenz. Lauter kleine Hirnschläge, die den Verstand lahmlegen. Jeden Tag ging Dir ein Stück von Deinem Leben verloren. Als Du unter Fluchen Deine Schuhe nicht mehr zubinden konntest, haben wir etwas gemerkt. Später hast Du die Butter in den Mund gesteckt, anstatt sie auf Dein Brot zu schmieren. Doch den Arzt, der zum ersten Mal von "Demenz" sprach, hieltest Du trotzdem für unfähig. Bis es nicht mehr ging zuhause – Du musstest in ein Pflegeheim, brauchtest Hilfe beim Waschen, Anziehen, auf der Toilette. Du wusstest nicht mehr, wie Du heißt, wie alt Du bist…und dass Du mein Vater, ich Dein Sohn bin.

Früher warst Du, waren mein Vater, meine Mutter für mich gottgleiche Wesen – Säulen, auf denen meine kleine große Welt ruhte. "Ein JA ist ein JA, ein NEIN ist ein Nein", hieß es für mich als Kind…und alles war gut. Du hattest immer Antworten auf meine Fragen, brachtest mir bei, was gerecht ist und hast mir die Ohren zugehalten bei Gewitter, damit ich keine Angst bekomme. Bei Dir geschah nichts ohne Grund. Vernunft war alles - Lust und Spaß an etwas jedoch keine Argumente für Dich. Einfach "Ja!" sagen fiel Dir schwer, immer nur "Ja, aber…". Du hast mir die Welt erklärt – nur nicht Deine eigene. Ich wünschte mir damals: Mein Vater wäre auch mal großer Kumpel, weniger Lehrer, Richter, Philosoph…einer, der mir die Freude und das Leben zeigt, nicht nur das Überleben.

 

Doch den Vater von früher gibt es längst nicht mehr, den Beschützer, den wortgewandten Alleswisser…aber eben auch nicht mehr den unbelehrbaren, selbstgerechten, aufbrausenden.

Was ist geschehen mit dem Denker, der nicht mehr denken konnte?

Gefühle schienen Dir unsicher – Dein Verstand dagegen sicher, Dein Glaube auch. Doch das Sichere war nicht mehr, brach einfach weg, Tag für Tag.

Aber: Auch das ewige Zweifeln – einfach weg!

Als Du kaum noch sprechen konntest, hab ich mich gefragt: Was würdest Du noch sagen, wenn Du könntest? Oder hast Du längst genug gesagt, genug gedacht?

Irgendwie war Dein Leben einfacher geworden, in einem sogar reicher:

Denn wenn der übermächtige Verstand weg ist, kommen die Gefühle zurück.

"Ich hab Angst" hast Du mal gesagt. Endlich! Denn früher blieb das ungesagt, soviel Trauriges blieb unbeweint, aber auch so manches kleine Glück unbemerkt.

Jetzt ist es da! All das zuzulassen, braucht Mut. Und Demut anzunehmen, was nicht zu ändern ist.

 

Also habe ich zwei Väter: Den Vater von früher und den Vater, der Du zuletzt warst, mit Deiner Krankheit, die schrecklich war, aber auch Platz geschaffen hat für Wundersames: Du hast das Lachen und das Weinen wieder erlernt – und es genossen!

Ich habe Dich noch nie so freundlich, so locker und gelassen erlebt wie in den letzten Jahren.

Nicht mehr der Lauf der Welt war wichtig, sondern: was es zum Mittagessen gibt. Und vor allem: Ob ich Marzipankartoffeln dabei hab, wenn ich Dich besuchen komme. Wir sind Freunde geworden, und das macht mich sehr froh.

 

Das letzte Vater-Sohn-Gespräch war da schon lange her, ebenso das letzte Telefonat und unser letzter Spaziergang. Eine Expedition über rund 200 Meter. Vorsichtig, immer einen kleinen Schritt nach dem anderen, sind wir durch den kleinen Park gewackelt. Und dann, auf der Bank, haben wir einfach nur dagesessen und uns gefreut, dass wir hier sind. Mehr nicht – und doch so viel, so schön.

 

Wenn es Dir schlecht ging, warst Du oft untröstlich, unerreichbar in Deiner tiefen Trauer. Nicht nur an Weihnachten, wenn eine Mischung aus Kerzenschein, Weihnachtsliedern und Plätzchenduft Dich in längst verlorene Zeiten zu ziehen schien. Oder einmal an Deinem Geburtstag, als wir Stunden brauchten, bis wir den Grund für Deine Tränen finden konnten. Du warst nicht traurig, weil Deine alten Freunde nicht mehr gratulierten – Du warst traurig, weil Du ihre Namen vergessen hattest, die Namen Deiner besten Freunde, die längst gestorben waren!

 

Unser Verhältnis zueinander hatte sich beinahe umgekehrt: Jetzt warst Du es, der meine Hand suchte, wenn wir gemeinsam die Straße überqueren wollten – so wie ich früher als Kind Deine Hand nahm und mich sicher fühlte. Erinnerst Du Dich? „Wenn ich groß bin und ihr klein…“, begannen damals meine großen Versprechen für die Zukunft. Irgendwie schien sonnenklar, dass sich alles umkehrt später. Und so kam es dann.

 

Als Kind musste ich mir keine Sorgen machen – jetzt war ich froh, dass Du nicht mitbekamst, wie hart und ungerührt Deine Krankenkasse immer wieder Medikamente strich, die Du dringend brauchtest, oder Therapien, weil Du ihnen nicht früh genug sterben wolltest. Früher wärst Du sehr böse geworden, hättest alles getan gegen diese Ungerechtigkeit – und einfach nicht begreifen wollen, wie Menschen andere Menschen so schlecht behandeln können.

 

Ich vermisse Dich. Klar, Deine Allwissenheit von früher, Deinen Sinn für Gerechtigkeit und Deinen schwarzen Humor – aber auch: unser Begrüßungsritual, als Du nicht einmal mehr „Hallo“ sagen konntest. „Ooooooooooh!“ - so hast Du mich empfangen. „Aaaaaaaaaah!“ habe ich geantwortet, Du hast gegrinst und alles war gut.

Einmal hast Du mich Horst genannt und Dich schiefgelacht dabei – ausgerechnet Horst!

Ein anderes Mal wolltest Du, dass ich sofort wieder gehe, weil Du auf Deinen Sohn wartest, der gleich kommen sollte. Nach ein paar Minuten kam ich zurück und alles war in Ordnung. Ob irgendwas gewesen wäre, fragte ich Dich. "Nein, wieso?", kam erstaunt Deine Antwort.

„Na, wer bin ich denn heute?“, hab ich manchmal gefragt: „Thomas, Friedolin, Adalbert?“ Oder: „Wie alt bist Du?“. 12 war, glaube ich, Deine letzte Antwort auf diese Frage. Und ich? „8“, kam es ohne Zögern. Wie das denn sein könne, weil ich doch Dein Sohn bin, habe ich Dich gefragt. „Na und?“ hast Du mit den Schultern gezuckt, nach dem Motto: Wer wird denn schon so kleinlich sein.

Wie selbstverständlich hast Du Phantasieworte benutzt.“Eisenmelch“ zum Beispiel, oder „Barmerstehl“…Barmer-Versicherung, Erbarmen, stehlen, stellen?

„Nein“, nein, nein“ kam es von Dir mit zunehmender Heiterkeit ob meines Scheiterns an Deinen, doch so simplen Begriffen!

Oder als mein Bruder mit seiner Familie Dich besuchte: Für ihn warst Du der Papa, für Deinen Enkel jedoch der Opa. Wie verwirrend. Als wir einfach "Popa" daraus machten, hast Du gelacht und wieder war alles gut.

 

Früher habe ich Dich - meinen Vater! - bewundert, manchmal auch gefürchtet.

Jetzt bin ich richtig stolz auf Dich, weil Du Dich nicht aufgegeben hast!

Nie hätte ich gedacht, dass mein ernster, sturer Vater auf seine alten Tage ein neues Leben beginnt…und sich traut, er selbst zu sein. Dabei weiß ich: Wenn Du nicht gewollt hättest, dann wärst Du einfach eingegangen wie eine Primel. Aber neben der großen Traurigkeit, neben Schmerz und vielen Tränen war da eben noch etwas anderes…ich habe keinen Namen dafür, aber es hat etwas mit Leben zu tun, mit einer besonderen Neugier, Mut und Ehrlichkeit zu sich selber - auch dann, wenn es richtig weh tut.

 

Vier Tage hast Du im Sterben gelegen, Dein Körper ausgezehrt von einer soeben noch überstandenen Lungenentzündung. Du hast einfach dagelegen und gehechelt wie ein Hund, den Mund offen. Tag und Nacht. Und ich hab mich gefragt: Woher nimmst Du bloß die Kraft, Du, der Du schon vor Jahren nur noch schlafen wolltest. Deine Augen waren geschlossen, sprechen war nicht mehr möglich. Du hast kaum reagiert, wenn ich Deinen trockenen Mund mit nassen Wattestäben angefeuchtet habe. Anfangs glaubte ich noch, Du kämpfst um Dein Leben. Doch je länger ich hinschaute, desto mehr bekam ich den Eindruck, dass hinter Deinen Augen im Kopf eine ganze Menge los ist. Als ob Du noch etwas erledigen müsstest; oder gerade einen "Film" Deines ganzen Lebens schneidest und den, wie alles früher, eben sehr gründlich. Du hast hochkonzentriert gewirkt in diesen Tagen…und dann einfach aufgehört zu atmen, mitten in der Nacht. Beinahe hätte ich es nicht mitbekommen, weil ich mich grad ein wenig hinlegen wollte. Schon ein paar Mal hattest Du mit dem Atmen ausgesetzt, für ein, zwei Sekunden. Also habe ich gezählt und bin nach "Zwei" aufgesprungen. Da hast Du nur noch ganz leise, ganz wenig ausgeatmet…Dein Leben "ausgehaucht". Ganz friedlich, ohne erkennbare Angst.

Du hattest es geschafft, es war vorbei, ganz unspektakulär.

Und ich war froh, denn bei Deiner Art von Demenz, haben die Ärzte gesagt, hättest Du auch qualvoll ersticken können, wenn zum Schluss der Kopf nicht mehr den Befehl zum Atmen gibt und selbst Reflexe nicht mehr funktionieren.

 

Deine Augen waren jetzt leicht geöffnet, Dein Blick geradeaus und sehr klar, wie seit mindestens 10 Jahren nicht mehr. Alles schien so normal, fast wie früher, vor Deiner Krankheit. Begriffe wie der vom "Leben, das sich vollendet" kamen mir in den Sinn – einen besseren Ausdruck fand ich bis heute leider nicht.

Und ich hab mich gefragt, was ohne Demenz mit Dir geworden wäre im Alter. Ob Du, so seltsam das klingt, nicht vielleicht das Beste aus dieser grausamen Krankheit machen konntest, nämlich Deinen Frieden mit Dir?

Ein seltsamer Moment für Scherze, aber ich glaube, Du hättest auch geschmunzelt, wenn ich - mit einem Lächeln, doch nicht ohne Stolz - gesagt hätte:

Sterben ist vielleicht das Schwierigste im Leben – aber MEIN Vater, der kann das im Schlaf!

 

Ich hoffe, dass es Dir gut geht - wo und wie immer Du auch sein magst!

 

                                        (erschienen in "Leben und Tod", 01/2013 )

                                                  © Benedikt Fischer 2012

 

 

 

 

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